Das Hilfetelefon – Beratung und Hilfe für Frauen
Der 27. Deutsche Präventionstag fand vom 4. - 5. Oktober 2022 in Hannover unter dem Motto "Kinder im Fokus der Prävention" statt.
Die Kontaktstelle war mit einem Stand vertreten und informierte vor allem über die CERV-Förderbereiche DAPHNE (Gewaltprävention) und Gleichstellung. Unter den vielen Gesprächen und Fachvorträgen während der zwei intensiven Tage in Hannover stach das Projekt "Brothers" des Göttinger Trägers Bonveno gGmbH heraus. "Brothers" unterstützt die Gewaltprävention bei geflüchteten männlichen Jugendlichen zwischen 14 – 25 Jahren durch eine geschlechter- und rollensensible Präventionsarbeit. Im Mittelpunkt der Projektarbeit steht das Coaching. Die jungen Männer werden gestärkt und zu Multiplikatoren für eine geschlechtergerechte Gesellschaft ausgebildet. Um Ihnen das Projekt näher vorzustellen führten wir ein Interview mit Matthias Kornmann, Deutsches Forum für Kriminalprävention (DFK) sowie Ferit Kilic und Sultan Zeb Khawaja, die als Teamer im Projekt beschäftigt sind.
27. Deutscher Präventionstag vom 4. – 5.10.2022 in Hannover
Interview mit Matthias Kornmann, Deutsches Forum für Kriminalprävention (DFK), Ferit Kilic & Sultan Zeb Khawaja, Bonveno Göttingen gGmbH
CERV: Ich habe mir gerade Ihre Vorstellung des Projekts „Brothers“ hier auf dem Präventionstag angesehen. Können Sie noch mal kurz darstellen, worum es dabei geht?
Ferit Kilic (FK): Ich versuche es ganz kurz: in dem Projekt geht es um Gewaltprävention, Identitätsbildung und pro-feministische Männerarbeit.
CERV: Sie gehen ja mit den Brothers – einer Art Peer-Multiplikatoren und bisher eben alles Jungs – ähnlich wie die „Heroes“, auf deren Konzept das Projekt basiert, an Schulen. Wie haben Sie das gemacht, die Jugendlichen überhaupt für das Projekt zu gewinnen?
FK: Gute Frage! Den ersten Teilnehmer haben wir durch ein Musikprojekt kennen gelernt, der hat seine Freunde mitgebracht, die haben wiederum ihre Freunde mitgebracht. Es ist halt ein Kreislauf.
CERV: Sie sprechen ja Themen an wie Ehrbegriffe, Verhältnis von Tradition zu Religion und was das im Alltag (vor allem migrantischer Jungs oder von jungen Menschen mit Fluchtgeschichte) bedeutet. Wie hängt das mit einem Thema wie Gewaltprävention oder Prävention allgemein zusammen?
Sultan Zeb Khawaja (SZK): Sehr viele Fälle, nicht nur bei migrantischen Menschen, aber bei fast allen Jugendlichen fangen damit an, dass man meint, etwas verteidigen zu müssen. Oder man fühlt sich beleidigt oder angegriffen. Wir haben viele Wörter dafür: meine Ehre, mein Ruf, Respekt, Ansehen… aber letztendlich reden wir von der gleichen Sache. Und damit startet einfach sehr viel Gewalt. Wenn jemand sich verletzt fühlt oder das Gefühl hat „ich muss mich jetzt verteidigen“ und ich kann das nicht mit Worten machen, sondern muss mich jetzt hauen oder verbal beleidigen – geht es oftmals so los. Deswegen ist dieser Begriff „Ehre“ so wichtig in der Arbeit der Brothers, weil es meistens der Auslöser ist – obwohl viele den Begriff noch nicht verstanden haben.
CERV: Sie hatten am Anfang Ihrer Präsentation ein Zitat von Albert Camus vorangestellt: Nichts ist kläglicher als Respekt, der auf Angst basiert. Das heißt es geht Ihnen darum, diese Begriffe zu hinterfragen – Sie sagten auch, Sie provozieren die Jugendlichen und bringen etwas ins Wanken. Bekommen Sie das in der kurzen Zeit auch wieder aufgefangen? Das sind ja gar nicht so lange Zeiten, die Sie zumindest an den Schulen mit den Klassen verbringen.
FK: Ich würde sagen ja. In den Workshops haben wir ein ganz klares Schema: Wir fangen an mit Provokationen, benutzen auch Wörter, die wir privat gar nicht benutzen würden. Von dort holen wir die Jugendlichen ab und ziehen sie mit uns mit zu einer Diskussionskultur, die es aushält, über diese Begriffe mit einer Distanz zu sprechen.
CERV: Ich frage jetzt mal in Richtung des DFK: Wie ist es dazu gekommen, dass Sie das Projekt unterstützen und evaluieren?
Matthias Kornmann (MK): Wir haben das Projekt mit angeschoben, weil wir einen Bedarf sehen: Die Präventionslandschaft bundesweit holt genau diese Zielgruppe geflüchtete junge Männer noch nicht ab und da wollten wir Pionierarbeit leisten. Dank der guten Arbeit der Teamer und Projektleiterin bei Brothers funktioniert das auch. Damit wollen wir den Stein ins Rollen bringen, dass diese Zielgruppe besser abgeholt wird. Da ist eben noch oftmals keine Teilhabe da. Die jungen Männer stehen zwischen den Stühlen: eigene Kultur, neue Kultur – welche ist besser; welche ist meine, den Begriff der Ehre haben wir soeben schon mal gehört. Und da passiert es eben schnell, dass man tradierte Normen, auch gewaltlegitimierende Normen – und das ist herkunftsunabhängig – einfach übernimmt. Und das genau wollen wir über das Projekt bzw. die Teamleiter aufbrechen. Sie geben den Jugendlichen die Gelegenheit, eine eigene Identität zu bilden und nicht nur blindlings etwas unhinterfragt zu übernehmen. Eventuell eben auch Gewalt. Sondern eigene Identität zu finden, zu diskutieren, zu hinterfragen – und das trifft sich mit unserer Arbeit bundesweit: Gewalt ist nicht zu legitimieren. Es gilt Prävention zu betreiben und das nicht durch Überstülpen von Werten sondern durch offenen Diskurs.
CERV: In der Präsentation wurde gesagt, dass es ein quasi fertiges Konzept gäbe, das man auf andere Orte übertragen könnte. Sie haben es den anderen Teilnehmenden des Präventionstages zur Übernahme angeboten. Nun kommen wir mit dem EU-Programm CERV ja aus dem Bereich des europäischen (Fach)Austausches – gibt es Überlegungen, mit den Brothers auch in den Austausch mit anderen Ländern zu gehen?
SZK: Wir hatten schon die Idee gehabt. Wir haben einen Kollegen, der aus Schweden kommt und dort Jugendarbeit macht, der es cool fände, so eine Kooperation einzugehen. Es wäre auch gut, wenn die Jugendlichen von hier noch ein Ziel hätten, wenn man ihnen sagen könnte: in Polen, in Dänemark gibt es auch so ähnliche Jugendprojekte wie die Brothers oder die Heroes und wir könnten etwas mit denen unternehmen. Ich glaube, das wäre noch mal ein Motivationsschub, Reisen mögen auch die Jugendlichen – die würden das feiern! Das würde viel Austausch ermöglichen und die Sicherheit geben, da gibt es noch andere Jugendliche, denen geht es ähnlich wie uns. Es geht darum, die Perspektive zu erweitern und das geht nur durch Kontakt.
CERV: Ihr Projekt wurde durch den Europäischen Sozialfonds ESF gefördert. Ist das Antragsverfahren bei EU-Programmen eine Hürde für solche Ideen europäischer Austausche oder halten Sie das für realisierbar?
MK: Das ist definitiv eine Hürde! Wir sehen, dass viele gute Projekte existieren und dann an der Förderung scheitern. Das hat seinen Grund darin, dass die Antragstellung oftmals so komplex ist, dass man es fast studiert haben muss. Und das ist genau die Problematik. Aber diese Hürde, denken wir, ist überwindbar. Für dieses Projekt haben sich tolle Leute bei Bonveno mit Herzblut da reingefuchst und es hat mit der ESF-Förderung geklappt. Allerdings betone ich, dass wir die Möglichkeit eines Austausches über die Grenzen hinweg eher langfristig sehen. Für uns als DFK haben wir das Ziel – und das ist schon ein langfristiges Ziel – das Projekt erst mal bundesweit umzusetzen. Wir versuchen das Projekt neben den zwei Pilotstandorten hier in Niedersachsen noch an weiteren Standorten ohne Qualitätsverlust – und das ist das Wichtige – zu etablieren. Deswegen müssen wir es langsam angehen lassen, um die Qualität zu behalten. Wenn wir das Projekt bundesweit etabliert haben, dann kann man auf dieser Basis über den nächsten, europäischen Schritt nachdenken. Aber nur mit einer guten Basis, mit guten Teamleitern wie mit Ferit und Sultan. Dann können wir gern das Wissen auch europaweit teilen. Man muss nicht überall das Rad neu erfinden, da sollten wir Synergien schaffen und voneinander lernen.
CERV: Dann noch mal zurück zum Deutschen Präventionstag hier in Hannover – was haben Sie hier Neues im Bereich Prävention entdeckt, was sollte man sich unbedingt noch mal anschauen?
SZK: Wir hatten eine Person vom Sozialdienst muslimischer Frauen (SmF) bei uns im Workshop, die haben auch einen Stand hier. Wir werden ja oft gefragt, ob wir auch mal eine Mädchengruppe aufmachen wollen. Und natürlich haben wir gesagt, wir können beim Aufbau mithelfen; aber als männliche Teamleiter würde das nicht so gut funktionieren. Und die vom SmF haben genau das umgekehrte Problem - die werden oft gefragt: habt Ihr eine Gruppe für männliche Jugendliche? Da wäre der Austausch cool, sodass wir bei denen in die Gruppe kommen und sie uns helfen könnten beim Aufbau einer Mädchengruppe.
CERV: Vielen Dank für das Interview an Sie drei!