Die Kontaktstelle CERV auf dem 1. Deutschen Gleichstellungstag in Berlin

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Datum

12.01.2023

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Tag

Geschlechtergleichstellung

Mit dem 1. Deutschen Gleichstellungstag ist die neue Bundesstiftung Gleichstellung offiziell in ihre inhaltliche Arbeit gestartet. Dabei wird auch die europäische Perspektive nicht außer Acht gelassen.

Seit Januar 1919 haben Frauen in Deutschland das Recht zu wählen und gewählt zu werden. Doch auch über 100 Jahre später sind Frauen nicht nur in politischen Ämtern und wirtschaftlichen Führungspositionen nach wie vor in der Minderheit. Um endlich Gleichstellung zwischen Männern und Frauen in allen Lebensbereichen herzustellen, hat die Bundesregierung im Rahmen ihrer 2020 beschlossenen Gleichstellungsstrategie das Ziel ausgerufen, Gleichstellung noch in diesem Jahrzehnt zu erreichen. Die Strategie soll neben verschiedenen zentralen Maßnahmen zur Förderung von Gleichstellung auch den gesellschaftlichen Wandel, den es für die nachhaltige Umsetzung des Vorhabens zwingend braucht und der sich nicht nur gefühlt zu langsam vollzieht, beschleunigen. Im Mai 2021 wurde mit der Bundesstiftung Gleichstellung eine Einrichtung geschaffen, die durch ihre Arbeit Geschlechtergleichstellung in Deutschland stärken und fördern soll. 

Mit dem ersten bundesweiten Gleichstellungstag, der am 5./6. Dezember 2022 im KINDL-Zentrum für zeitgenössische Kunst in Berlin stattfand, ist die neue Bundesstiftung Gleichstellung in ihre inhaltliche Stiftungsarbeit gestartet und hat u.a. das Arbeitsprogramm für 2023 vorgestellt. Die zweitägige Eröffnungs-Veranstaltung stand unter dem Motto „Zusammen:wachsen - Gemeinsam den Aufbruch ins Jahrzehnt der Gleichstellung gestalten“. Mit dem Begleit-Slogan “Es ist Zeit” wurde dabei auf die Dringlichkeit des Themas aufmerksam gemacht. Multiperspektivische Paneldiskussionen mit nationalen und internationalen Gleichstellungsexpert:innen aus verschiedenen Bereichen sowie Workshops zu gleichstellungspolitischen Zukunftsthemen verdeutlichten eindringlich, dass Gleichstellungsthemen (insbesondere vor dem Hintergrund multipler Krisen, wie sie aktuell in der Welt existieren) politisch immer wieder hintenangestellt und Frauenrechte dadurch nicht selten sogar zurückgeworfen werden. Familienministerin Lisa Paus, die zugleich Vorsitzende des Stiftungsrates der Bundesstiftung ist, betonte in ihrer Eröffnungsrede vor etwa 300 Gästen (und weiteren 500 digital Zugeschalteten), dass jeder Mensch in unserem Land selbstbestimmt, frei von Diskriminierung und Gewalt leben können soll.

Auch die Kontaktstelle CERV war vor Ort vertreten. Neben inhaltlicher Weiterbildung und vielen spannenden Begegnungen war es möglich, das CERV-Programm, das in den Aktionsbereichen „Gleichstellung, Rechte und Geschlechtergleichstellung“ sowie „DAPHNE (Gewaltprävention)“ zivilgesellschaftliche Projekte zu den Themen Gleichstellung und Anti-Diskriminierung fördert, einer höchst relevanten und fachkundigen Zielgruppe zu präsentieren. Politisch wird dem Erreichen von Geschlechtergleichstellung auf europäischer Ebene absolute Dringlichkeit eingeräumt. Als universelles Menschenrecht und als eine zentrale Frage von Gerechtigkeit ist Gleichstellung grundlegend für eine stabile, florierende und partizipative Demokratie. Bisher hat noch kein EU-Mitgliedsland die vollständige Parität der Geschlechter erreichen können. Mit der EU-Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter 2020-2025 legt die Europäische Kommission konkrete Maßnahmen fest und verpflichtet sich, die Gleichstellungsperspektive in alle Politikbereiche der EU einzubeziehen (sog. Gender-Mainstreaming). Auch auf dem 1. Deutschen Gleichstellungstag wurde die europäische Perspektive mit einem hybriden Workshop zum Thema “Gleichstellung gelingt vor Ort - Wie die Europäische Charta dazu beitragen kann, dass Gleichstellung in Städten und Gemeinden erlebbar wird” und einer internationalen Abschlussdiskussion betrachtet. Unter dem Thema “Deutschland und Europa: Gleichstellungspolitik der Zukunft vor dem Hintergrund großer Krisen” kam z.B. eine Vertreterin des Europäischen Institutes für Gleichstellungsfragen zu Wort. Neben fachkundigen und inspirierenden Beiträgen von Expert:innen, Aktivist:innen und Künstler:innen aus der Gleichstellungszene bot der 1. Deutsche Gleichstellungstag vor allem auch einen Einblick in die Arbeit, die in den kommenden Jahren vor der neu geschaffenen Bundesstiftung Gleichstellung liegt. Lesen Sie in einem Interview, das wir mit Lisi Maier, Direktorin der Bundesstiftung Gleichstellung, geführt haben, mehr zu den Aufgaben und Hintergünden der Stiftung.

 

KS CERV: In Anspielung auf #EsistZeit – den Slogan des 1. bundesweiten Gleichstellungtages – zu Beginn die Frage: Warum gibt es die Bundesstiftung Gleichstellung eigentlich erst seit Ende 2021?

Lisi Maier: Das ist eine gute Frage! An der Stelle könnte ich natürlich antworten: Was lange währt wird endlich gut, aber ich hätte mich natürlich auch gefreut, wenn es die Stiftung schon früher gegeben hätte. Die Stiftung geht auf die Aktionsplattform von Peking zurück, die 1995 „national machineries“ für Gleichstellung gefordert hat. Damit begann in Deutschland ein langer Prozess der politischen Lobbyarbeit, an dem sich verschiedene zivilgesellschaftliche Akteur*innen beteiligt haben. Auch die Gleichstellungsberichte der Bundesregierung empfahlen ein „Zentrum“ oder „Institut“ für Gleichstellung. Im Koalitionsvertrag 2018 wurde dann schließlich die Errichtung der Bundesstiftung Gleichstellung vereinbart und das zugehörige Errichtungsgesetz im Mai 2021 vom Bundestag beschlossen.

KS CERV: Welche Funktion hat die Stiftung und welche wesentlichen Aufgaben soll sie zukünftig übernehmen? 

Lisi Maier: Die Stiftung soll ein Wissensknotenpunkt für das Thema Gleichstellung werden. Wir wollen unterschiedlichen Zielgruppen Gleichstellungswissen zur Verfügung stellen – in Form von Fachveranstaltungen, Dossiers auf unserer Website, perspektivisch einem Podcast, Kulturevents und vielem mehr. Wir wollen den öffentlichen Diskurs rund um Gleichstellung begleiten und durch die Beratung zentraler Akteur*innen unterstützen. Durch Vernetzung von Bund, Ländern, Kommunen, der Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft befördern wir die gleichstellungspolitischen Bemühungen in Deutschland.

KS CERV: Bezieht sich der Gleichstellungsbegriff im Kontext der Arbeit der Bundesstiftung in erster Linie auf die Gleichstellung der Geschlechter oder schließt das Arbeitsprogramm die Förderung von Gleichstellung verschiedener Gruppen, wie bspw. die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung oder die Gleichstellung von Personen unabhängig ihrer ethnischen oder sozialen Herkunft mit ein?

Lisi Maier: Das Errichtungsgesetz der Stiftung bezieht sich auf Artikel 3 Satz 2 des Grundgesetzes, in dem festgehalten ist, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind und der Staat auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirkt. Der Auftrag der Stiftung ist also sehr klar auf die Gleichstellung von Frauen und Männern fokussiert. Unser Anspruch ist dabei jedoch eine intersektionale Herangehensweise: In unsere Arbeit integrieren wir die Perspektiven und Lebenswelten von Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte, mit Behinderung und Trans*Inter*Nicht-Binär*Queere Menschen, indem wir uns mit den entsprechenden Interessenvertreter*innen aus Verbänden, Stiftungen und Organisationen vernetzen und austauschen. 

KS CERV: Die überwältigende Resonanz auf den 1. bundesweiten Gleichstellungstag zeigt, wie sehr das Thema Gleichstellung gesellschaftlich an Bedeutung gewonnen hat. An welchem Punkt sind wir in Deutschland, was Gleichstellung angeht? Wo sehen Sie die größten Herausforderungen bzw. welche Multiplikator:innen braucht es in den kommenden Jahren, um den Status Quo nachhaltig zu verändern – insbesondere auch im Angesicht der vielen, sich überlagernden globalen Krisen?

Lisi Maier: Über das große Interesse am 1. bundesweiten Gleichstellungstag haben wir uns sehr gefreut. Besonders auffallend war für uns die Stimmung unter den Teilnehmenden, die sich durch nahezu alle Programmpunkte zog: Die Geduld vieler Akteur*innen ist am Ende. Es ist Zeit, dass es in Deutschland einen großen Schritt voran geht mit der Gleichstellung. Denn auch wenn wir in Deutschland in den letzten Jahrzenten natürlich viele Fortschritte erreicht haben, geht es in einigen Bereichen nur im Schneckentempo voran. Im europäischen Vergleich fällt in Deutschland aktuell vor allem die hohe Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern, die vergleichsweise geringe Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt und ein niedriger Frauenanteil in Parlamenten und Führungspositionen auf. Hier haben wir in Deutschland definitiv Aufholbedarf. 

Eine weitere Herausforderung sehe ich darin, gerade angesichts der globalen Krisen sicherzustellen, dass die gemeinsame Arbeit hin zur Gleichstellung aller Geschlechter nicht hintenangestellt wird – wie leider in der Vergangenheit schon passiert. Diese Krisen sind nicht geschlechtsneutral. In der Corona-Pandemie mussten wir in Deutschland eine Tendenz zur Retraditionalisierung der Geschlechterrollen beobachten. Um diesen Dynamiken entgegenzuwirken, müssen also konsequenterweise gerade in Krisenzeiten wirkmächtige gleichstellungspolitische Maßnahmen etabliert werden.Und hier schließt sich der Kreis, denn um dies zu erreichen, brauchen wir unter anderem eine größere Datengrundlage. Zudem ist eine systematische Vernetzung der nationalen gleichstellungspolitischen Akteur*innen notwendig und ebenso die europäische Vernetzung mit Gleichstellungsinstituten oder -agenturen von Ländern wie Belgien, Spanien oder Schweden und dem europäischen Gleichstellungsinstitut EIGE. 

KS CERV: CERV ist das größte zivilgesellschaftliche Förderinstrument der EU. Auf Grundlage verschiedener politischer Aktionspläne und Initiativen möchte die EU Projekte fördern, die sich für Gleichstellung und gegen Diskriminierung einsetzen. Auch beim 1. bundesweiten Gleichstellungstag gab es einen Workshop, der sich mit strategischer Gleichstellungspolitik für kommunale und regionale Akteur:innen auf Grundlage der Europäischen Charta für die Gleichstellung von Frauen und Männern beschäftigt hat. Inwieweit sollte beim Thema Gleichstellungspolitik neben der nationalen immer auch die europäische Ebene mitgedacht werden? 

Lisi Maier: Um das universelle Menschenrecht der gleichen Verwirklichungschancen aller Geschlechter umzusetzen, gehört es zur europäischen Identität, aktive Gleichstellungspolitik zu betreiben. Viele gleichstellungspolitische Herausforderungen machen nicht an Ländergrenzen halt, sondern brauchen gesamteuropäische Lösungsansätze – das gilt für den Kampf gegen sexualisierte und häusliche Gewalt gegen Frauen genauso wie beim Ringen um EqualPay. National können sich sowohl gleichstellungspolitische Akteur*innen als auch politische Vertreter*innen argumentativ und rechtlich immer wieder auf EU-Rahmenpapiere, EU-Konventionen und EU-Richtlinien berufen. Auch die EU-Gleichstellungsstrategie 2020-2025 ist für alle Mitgliedstaaten verpflichtend und benennt konkrete Ziele und verbindliche Maßnahmen. Durch die Messbarmachung von Fortschritten in der Gleichstellung und die Vergleichbarkeit mit den anderen EU-Ländern kann zudem national Handlungsdruck erzeugt werden. 

Die „Europäische Charta für die Gleichstellung von Frauen und Männern“ ist ein Beispiel, wie die Arbeit von kommunalen Gleichstellungsbeauftragten ganz konkret unterstützt werden kann. Sie kann finanzielles und strategisches Rückgrat für lokale Gleichstellungspolitik sein und den Aufbau von Strukturen vor Ort, die langfristig Gleichstellung herstellen, vorantreiben. Aus diesen Gründen muss die europäische Ebene immer mitgedacht werden.

KS CERV: Wie fällt Ihr Fazit nach dem 1. bundesweiten Gleichstellungstag aus? Welche Erkenntnisse und Eindrücke haben Sie ganz persönlich für die Arbeit der Bundesstiftung und den nächsten Gleichstellungstag im Frühjahr 2024 mitgenommen?

Lisi Maier: Der Gleichstellungstag gab uns die Möglichkeit, Gleichstellungsthemen mit einem breiteren interessierten Publikum zu diskutieren und die Debatten auf diese Weise weiter in die Öffentlichkeit zu tragen. Die Teilnehmer*innen waren begeistert und motiviert, es gab viele spannende Diskussionen und Aha-Momente. Für den nächsten Gleichstellungstag haben wir uns vorgenommen, diese Erfahrungen noch zu übertreffen. Im Team werden wir die Veranstaltung noch ausführlich auswerten und ein Konzept für den nächsten Gleichstellungstag entwickeln, der einen stärkeren Plattformcharakter haben soll, damit die gleichstellungspolitischen Akteur*innen selbst auch die Möglichkeit haben, ihre Organisationen vorzustellen und ihre Ideen mit der Gleichstellungslandschaft zu diskutieren

Vielen Dank für das aufschlussreiche und spannende Interview!